Ein Kind aus einer gebrochenen Familie



In meiner Kindheit erinnerte ich mich kaum an meinen Vater.

Meine Mutter ließ sich von ihm scheiden, als ich noch nicht mal ein Jahre alt war. Da mein Vater noch eine Beziehung zu einer Frau hatte, die von ihm schwanger war. Er wollte, dass wir zu dritt zusammen leben. Aber meine Mutter wollte das nicht. Sie entschied sich ihn zu verlassen und ohne Hilfe von meinem Vater bin ich aufgewachsen.

Wir waren zehn Jahre lang zu zweit. Als ich sechs Jahre alt war, kam ich in ein Internat. Aufgrund des Verkehrsstaus in Bangkok und ihrer anstrengenden Arbeit konnte sie mich nicht jeden Tag abholen. Sie arbeitete bis spät Abends, um die hohen Schulgebühren bezahlen zu können. Sie sagte immer: „Meine Tochter ist die Beste.” Sie bestärkte mich häufig: „Denk nur an dein Studium. Lass die Leute reden, du brauchst dich nicht dafür zu interessieren.“

Jedes Jahr am Vatertag war es der schlimmste Tag meiner Kindheit. Alle Schülerinnen müssen Bilder  malen und Begrüßungskarten für ihre Väter basteln. Der Vatertag ist in Thailand gleichzeitig der Königstag und eine der höchsten Feiertage. Ich kann mich nicht genau an den Ablauf dieser Tage erinnern. Aber ich bin mir sicher, dass ich es ablehnte, die Karte zu basteln, weil ich meinen Vater sehr doll hasste.

Ich dachte immer, dass sich mein Vater um mich kümmern und mich von allem am liebsten haben sollte. Häufig weinte ich in der Nacht, weil ich ihn vermisste. Es tat mir jedes Mal sehr weh, wenn die Eltern von meinen Freundinnen oder meine Lehrerinnen fragten: „Wo ist dein Vater?“. Entweder antwortete ich „Ich weiß nicht.“ oder „Ich habe keinen.“

Während der Schulzeit bemerkte ich, dass es einen großen Unterschied zwischen mir und meinen Freundinnen gab. Es ist wahr, dass die Väter von manchen meiner Freundinnen schon gestorben sind. Dies ist auch derselbe Verlust, aber die Gefühle sind überhaupt nicht vergleichbar. Ich glaube nicht, dass diese Väter ihre Kinder verlassen wollten, doch sie hatten keine Wahl. Es ist nicht vergleichbar mit einer Trennung der Eltern.

Meine Kindheit war einsam, denn ich konnte niemandem vertrauen. Ich hatte keine enge Freundin, weil ich Angst hatte, dass sie mich irgendwann betrügen würde. Ich konnte dieses Gefühl nicht mehr ertragen. Ich dachte, wenn das mein Vater tun konnte, könnten es die Freundinnen, die eigentlich Fremde sind, ebenso tun.

Wir haben überhaupt nicht über meinen Vater geredet. Meine Erinnerung an ihn ist schemenhaft. Aber ich erinnere mich daran, dass meine Urgroßmutter bevor sie starb zu meiner Mutter gesagt hatte: „Du darfst nicht wieder mit ihm zusammen leben, egal was passiert.“

Als ich zehn Jahre alt war, hat meine Mutter wieder geheiratet. Natürlich war ich total dagegen, denn ich hatte Angst davor, dass sie mich nicht mehr liebt. Aber meine Mutter sagte: „Keine Angst. Egal was passiert, ich bin immer an deiner Seite. Wir haben viel zusammen durchgemacht. Wenn er nicht nett ist, dann trenne ich wieder von ihm“. Diesmal hatten wir Glück, denn er ist sehr nett und liebt mich wie seine Tochter.

Als ich 19 Jahre alt war, änderte sich meine Einstellung, denn ich fing an, mich intensiv mit dem Buddhismus zu beschäftigen. Ich lernte, dass es auf dieser Welt keinen Zufall gibt. Alles, was mir passiert, passt zu mir und lohnt sich für mich. Ich lernte meinem Vater zu vergeben, weil er mir bereits wertvolle Geschenke gab: Mein Leben und meinen Körper. Ohne ihn könnte ich sowohl die guten Zeiten als auch die schlechten Zeiten gar nicht erleben. Durch regelmäßiges Üben der Lehre Buddhas konnte ich mich befreien.

In meiner Studienzeit sah ich häufig, dass meine Freunde wegen der Liebe traurig waren. Ich war neugierig, wie meine Mutter ihre Vergangenheit bewältigte. Aber ich fragte nie, denn ich hatte Angst, dass meine Frage ihr weh tut würde.

Als ich 20 Jahre alt war, interessierten eine Freundin und ich uns für denselben Mann. Die Beiden wurden ein Paar. Ich war sehr traurig und total enttäuscht. Ich entschied mich meiner Mutter davon zu berichten. Unter Tränen erzählte ich ihr meine Geschichte. Als ich aufhörte, fragte sie mich „Phaiy, weißt du, wer die Nebenfrau von deinem Vater war?“. Sie wartete auf meine Antwort. Ich schüttelte den Kopf und antwortete „Ich weiß nicht“. Danach sagte sie „Sie war meine Brautjungfer“.

Als ich ihre Antwort hörte, realisierte ich, dass mein Problem Unsinn war. Ich hörte auf zu weinen und fragte sie „Wieso hast du ihn geheiratet?“ und „Wenn du gewusst hättest, dass er dich betrügen würde, hättest du ihn immer noch geheiratet?“. Sie antwortete „Eigentlich hatte ich ein Freund, den ich liebte. Wir studierten zusammen an der Uni. Aber deine Oma und deine Tante förderten deinen Vater, denn er sah erwachsener und verantwortlicher aus und er hatte eine gute Arbeit. Wahrscheinlich würde er sich besser um mich kümmern können. Die Antwort für die zweite Frage ist <<Ja>>, denn er gab mir schon ein wunderschönes Geschenk, das bist du“.

Ich sagte „Mama, weißt du, als ich noch klein war, hasste ich ihn, denn er verließ uns“. Sie sagte „Bitte hasse ihn nicht. Es gab ja Gründe. Er kommt aus einer gebrochenen Familie und musste viel arbeiten, seit er noch ein Kind war, um genug Geld zu verdienen, weil er sich um seine Schwester kümmern musste. Er kennt Liebe nicht und kann auch nicht lieben, deshalb sollte er dich nicht erziehen“.

Sie sagte weiter „Phaiy, du hast ja keine Ahnung, dass du und dein Vater euch einander sehr ähnlich seid. Deine Vorteile wie Fleiß, Geduld, Klugheit oder Kunstfähigkeit sind auch seine Vorteile. Eigentlich kennst du ihn“.

Seit diesem Tag kannte ich endlich meinen Vater und wusste gleichzeitig die Gefühle meiner Mutter über ihn. Sie hat ihn nie gehasst und ließ nicht zu, dass ich meinen Vater schlecht beurteilte. Sie sagt immer über das, was schon passiert ist, sollte man nicht nachdenken und sich Sorgen machen, sondern es los lassen.

Ich erinnere mich an einen Satz, den ein Bekannter von mir sagte, am schlimmsten Tag geht die Sonne im Osten auf und dann im Westen unter und der Mensch atmet wechselseitig ein und aus.

Der erste Vater ist der Mann, der mir mein Leben gab, aber er hatte keine Chance, mich zu erziehen. Der jetzige Vater ist der Mann, der sich um mich kümmert. Ich bedanke mich bei Beiden von ganzem Herzen dafür.


Jetzt bin ich 23 Jahre alt und studiere in Deutschland. Ich bin sicher, dass ich meinen Vater nicht mehr hasse. Zudem habe ich ein neues Ziel: Wenn ich irgendwann in der Zukunft die Chance habe, ihn wieder zu treffen, werde ich mich bei ihm bedanken, dass er mir ein wunderschönes Leben gegeben hat.


 5. Juli 2009, Lüneburg Germany


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